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„Ich habe keine Sprache für meine Wirklichkeit.“

  • Autorenbild: Jessica Abraham
    Jessica Abraham
  • 28. Okt. 2019
  • 8 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Jan. 2023


(Erstes Heft)

Max Frisch (1911 - 1991)

Schweizer Schriftsteller.

Eine der berühmtesten Gleichnisse der Philosophie ist das Höhlengleichnis von Platon (428 - 347 v. Chr.), das sich gut auf mein Leben übertragen lässt. Es geht darum, ob und wie ein Mensch die Wahrheit erkennen kann (PLATON, S. 301ff.). Im Gleichnis führt Sokrates ein Dialog mit Glaukon über solche Menschen, die in einer Höhle eingesperrt und gefesselt sind. Sie sitzen mit dem Rücken zu einer Lichtquelle und sehen nur die, wie im Schattentheater, an die Wand geworfenen, flackernden und umher tanzenden Schatten. Diese Schatten nehmen die gefesselten Menschen mit ihren Sinnen als die ihre Wirklichkeit war. Sie kennen keine andere Wirklichkeit, als nur die Höhle mit dem Schattenspiel.


Wie sah nun meine Wirklichkeit aus? Ein Mantel des Schweigens, des Vergessens und Verdrängens lag für eine sehr lange Zeit über meine Wirklichkeit. Unter dem Eindruck der erlittenen Gewalt riss mich die Sprachlosigkeit mehr als vierzig Jahre lang in die dunklen seelischen Tiefen hinab. So wurde mein Gefühl "des Anders seins", dass ich während der Kindheit und Jugendzeit verspürte, in den Hintergrund gedrängt. Es ging erst einmal nur um mein Überleben. Und nur darum...


Ich war allein... Vertrauen? An wem sollte ich mich als Kind und Jugendliche wenden? Ich erlebte Gewalt in der Herkunftsfamilie. Ich konnte kein Vertrauen zu den Eltern aufbauen. Mit dieser seelischen Abgeschiedenheit isolierte ich mich emotional zu anderen Menschen. Jedoch alle meine traumatischen Erfahrungen sind aber Wirklichkeiten, die ich in ihrer Unfassbarkeit nicht fassen und integrieren konnte. Als junge Erwachsene fragte ich mich immer wieder: „Es kann doch mir nicht geschehen sein.“ oder „Das ist doch nicht wahr! Es muss eine andere davon betroffen gewesen sein!“ Die Verdrängung verbrauchte eine enorme innere Kraft. Trotzdem stieg in mir immer wieder eine dumpfe Ahnung an die Oberfläche hoch, dass etwas mit mir geschehen war - Mal mehr und mal weniger. Bestimmte Bilder schossen wie Schatten an den Wänden in meiner Seele auf. Sie fesselten mich lange. Diese Erinnerungen konnte ich später als emotionale, körperliche und sexueller Missbrauchserfahrungen identifizieren. Sie lagen wie Felsbrocken auf meiner inneren Seelenlandschaft; ein Fremdkörper, der mir im Laufe meines Lebens zu Eigen geworden ist... Und doch gab da etwas, was ich nicht benennen konnte. Tiefgreifender. Existenzieller. Spuren der Wirklichkeit in meinen Körper, meinem Fühlen und Denken. Dieses verschüttete Wissen, sagte mir etwas anderes. Jedoch die Traumatas verhinderten ersteinmal ein offizielles Outing.


Wenn ich mein Spiegelbild ansah, erkannte und spürte ich nicht die Person, die mich traurig anschaute. Ich hasste, was ich sah: die Baartstoppel, den Körper und das männliche Geschlecht. Ich fühlte mich in meinem eigenen Körper eingesperrt. Dieses Gefühl bestand schon als Kind. Sich nicht dazugehörig fühlend, aus Angst sich abseits zu halten wurde mir in der Jugendzeit zum Verhängnis. Ich konnte nicht aus mir herauskommen. Was war mit mir los? Ich hatte Angst den Eltern, dem Pfarrer und den Lehrern etwas zu sagen. In der DDR- Diktatur entwickelte eine Person sehr schnell ein Gefühl, wem man vertrauen konnte oder nicht? Oftmals lag man auch daneben! Auch in dieser Hinsicht musste ich Erfahrungen machen.


Ich zog als Kind heimlich weibliche Klamotten an, fühlte mich darin geborgen, fand mich darin schön. Die Welt der Jungen/Männer blieb mir verschlossen, jedoch die Welt der Mädchen/Frauen verstand ich. Ich suchte den Kontakt zu ihnen. Meine Interessen waren eher von weiblicher Natur. Seit der Kindheit sahen und bezeichneten mich die Menschen als zu weich, zurückhaltend, untypisch für einen Jungen, mädchenhaft, homosexuell u.s.w. an.


Ich versuchte mich männlicher zu geben, jedoch gelang es mir nicht, weil es eben nicht zu mir passte. Selbst meine damalige vierjährige Pflegetochter, die vor Männern Angst hatte, sagte zu mir: "Papa ist kein Mann". Meine andere Pflegetochter nannte mich die "Papamama".


Ich gehe noch einmal zurück in meine Jugendzeit: In der Pubertät konnte ich den Druck von innen und außen nicht aushalten, so dass ich mich verletzte; ich ging sogar soweit, dass ich mein Leben als Neunzehnjähriger beenden wollte. Es folgten Angsterkrankungen und Depressionen. Ein weiterer Versuch der Bewältigung war, mich ins Religiöse zurückzuziehen. Ich wollte mich selbst vergessen... Alles für Andere tun... Mich aufopfern, um Gott für mich gnädig zu stimmen. Ich wollte meine "Sünden" von weiblichen Gedanken und Gefühle abarbeiten. Auch das half nicht...


Dann gab es jene Ereignisse, die mein Leben machhaltig prägte. Jene monatelangen Vergewaltigungen während der Lehrzeit durchkreuzten meine Outing-Versuche. Ganz besonders erlitt ich ein Vertrauensverlust in die stattliche DDR-Behörde, als ich mit der Kraft meines ganzen Mutes diese Vergewaltigungen bei der Volkspolizei anzeigte und diese Behörde mich wieder entließ, ohne etwas dagegen zu unternehmen, denn im Sozialismus gibt es so etwas nicht. Wem sollte ich überhaupt noch vertrauen? Ich stand mit meinen Problemen alleine da....


Ich nutzte jedoch jede Tür, die mich nach vorne bringen konnte. Ich studierte Soziale Arbeit.


Nachdem ich nach der Wende meine Ex-Partnerin kennengelernt hatte, versuchte ich die Rolle des Ehemannes einzunehmen, in dem Sinne: es darf nicht sein, was eigentlich sein darf. Auch wenn meine Ex-Partnerin mir etwas gab, was ich bis dahin noch nie verspürte: Liebe und Zuneigung; so war ich dennoch im Innersten nicht glücklich; irgendetwas war falsch an mir. Ich reifte mit den Größer-werden der Kinder nach: mit ihrem glücklichen Aufwachsen konnte ich an meine eigenen Gewalterfahrungen unter professioneller Hilfe bearbeiten. Jedoch meine Erkenntnisse wurden vielfältiger: Ich wurde selber professionellen Therapeutin und studierte psychische Gesundheit. Wie eine Zwiebel schälte ich meine Erfahrungen ab, um an meinen inneren und wahren Kern heranzukommen.


Ich denke, dass etwas Paradoxes in einer und derselben Person bestehen kann. Einerseits ist die Wirklichkeit der Missbrauchserfahrungen nicht integriert worden, weil es in meinem Selbst- und Weltbild nicht hineinpasste, die dennoch ein Teil dessen sind, was in meinem Innersten zu finden ist, anderseits, lag hinter dem dunklen Geheimnis der Missbrauchserfahrungen mein Geheimnis des Anderseins, die meine angeborene weibliche Identität ausmachte. Es ist eine Qual über eine lange Zeit das traumatisch Erlebte und des Anderseinspürens verbalisieren zu können, im Sinne der Worte von Max Frisch: „Ich habe keine Sprache für meine Wirklichkeit“. Es ist ein bekanntes Symptom von traumatisierten Menschen, da sie unter einer Sprachverwirrung, Sprachlosigkeit oder Stummheit leiden. Das Thema der Transsexualität war in der DDR nicht in der Öffentlichkeit bekannt, zumal das"Andersein" gesellschaftlich nicht ungefährlich war.


Zurück zum Höhlengleichnis, das ich noch nicht ganz weiter erzählt habe. Wenn nun dieser gefangene und gefesselte Mensch losgebunden würde und er sich durch diese Befreiung umdrehen könnte, dann ist er durch den Schein des Feuers geblendet. Er sieht nichts mehr. Um wieder klarer sehen zu können, würde er sich an seinen Platz zurück setzen. Wenn aber dieser gefangene Mensch, so die weitere Frage von Platon, aus der Höhle ins Sonnenlicht gebracht würde, dann wird dieser Mensch erst recht geblendet sein. Was aber dann passieren täte, ist, dass nach und nach ein Erkennen von Dingen erfolgt und die Erkenntnis, dass die Schatten der Dinge, die er in der Höhle gesehen hat, durch die Sonne an die dortige Wand geworfen wurden. Wenn er aber zurück zur Höhle gebracht würde, würden seine anderen Mitgefangenen von seiner Erkenntnis, dass die Schatten an der Wand nicht die Wirklichkeit darstellt, nicht glauben. Genauso reagieren die Menschen in der näheren sozialen Umgebung von solchen Menschen, wie ich: ungläubig, bagatellisierend, abwertend oder ablehnend. Oder doch nicht?


Ich war in meiner subjektiven Realität durch meine Sinneseinschränkung in der Höhle gefangen. Ich konnte meine Augen weiterhin verschließen und in der Höhle gefangen bleiben, mit den Spruch: „Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“, "Ich lasse alles im Dunkeln" oder "Ich kann die Rolle, die ich seit Jahrzehnte auszufüllen gelernt habe, weiter unglücklich ausfüllen. Ich kenne nur das, was ich mit meinen eingeschränkten Sinnen wahrnehme." Wo bleibt dann der Sinn des Lebens? Was mache ich mit den Worten Selbstverwirklichung und Selbstakzeptanz? Andersrum gedacht, wenn jedoch es mir nicht möglich ist, das Geschehene gänzlich zu vergessen, dann werden auch weiterhin verschiedene Abwehrmechanismen angewendet, um es für mich erträglicher zu machen: abgespalten, bagatellisieren und rationalisieren. Und gleichzeitig werden die psychischen und somatischen Störungsbilder schlimmer, je mehr ich es verdrängte. Ich weis wovon ich spreche, denn ich sehe jeden Tag wohnungslose und psychisch erkrankte Menschen, die sich nicht ihrer Vergangenheit stellen können und wollen.


Wenn mir die Möglichkeit des sich Wendens oder des ins Sonnenlicht hinausgeführt Werdens gegeben wird, dann beginnt ein schmerzhafter Prozess neue Wahrheiten erkennen zu müssen. Ich löse mich von den flackernden und tanzenden Schatten des Scheins, die ich in meiner Höhle wahrgenommen habe. Die Wahrheit, dass mir Gewalt angetan wurde, diese zu identifizieren und somit ans Licht zu bringen, ist sehr leidvoll. Auch dann, wenn ich wieder in die Höhle zurückkehren würde, werde ich dort immer noch die Schatten vorfinden. Die traumatischen Erfahrungen der sexuellen Vergewaltigungen in der Jugendzeit kann ich nicht löschen. Es hat sich aber etwas in mir verändert, denn ich werde nicht mehr unwissend sein, weil ich die wahren Dinge im Lichte gesehen habe und diese hinter den Schatten wiedererkenne. Das habe ich getan und es tat mir gut. Doch der größte Geburt im neuen Schein ist meine Anerkennung meiner Identität: ich habe das Wort gefunden, wie es bezeichnet wird; es ist keine Krankheit, keine Besessenheit, keine Perversität -

nur eine geschlechtliche Vielfalt in der menschlichen Natur. Diese Identität, die ich zeitlebens in mir trage, nahm ich mit offenen Händen auf. Oft musste ich weinen, die ungeweinten Tränen fließen lassen, denn ich sehe mich im Spiegel als reife Frau, die in sich ruht, mich wieder anlächelt und sagt: Du siehst gut aus. 


Ich gehe noch einmal zurück zum Höhlengleichnis, das ich noch nicht ganz zu Ende erzählt habe. Wenn nun dieser gefangene und gefesselte Mensch losgebunden würde und er sich durch diese Befreiung umdrehen könnte, dann ist er durch den Schein des Feuers geblendet. Er sieht nichts mehr. Um wieder klarer sehen zu können, würde er sich an seinen Platz zurück setzen. Wenn aber dieser gefangene Mensch, so die weitere Frage von Platon, aus der Höhle ins Sonnenlicht gebracht würde, dann wird dieser Mensch erst recht geblendet sein. Was aber dann passiert, ist folgendes: nach und nach wird der Mensch Dinge erkennen und mit einer weiteren Erkenntnis, dass die Schatten der Dinge, die er in der Höhle gesehen hat, durch die Sonne an die dortige Wand geworfen wurden. Wenn er aber zurück zur Höhle gebracht würde, würden seine anderen Mitgefangenen von seiner Erkenntnis, dass die Schatten an der Wand nicht die Wirklichkeit darstellt, nicht glauben. Diese Menschen kennen nur das, was sie mit ihren eingeschränkten Sinnen wahrnehmen. Sie verdrängen, bagatellisieren oder im schlimmsten Fall werden sie aggressiv.  Jedoch ist es nur der Schein. Aber die innere Wahrheit kommt immer ans Licht. Es drängt nach außen... Ich aber konnte meine Wahrheit identifizieren und ans Licht bringen, auch wenn es dabei leidvolle und schmerzhafte Momente gab. Wie eine Zwiebel schälte ich mein Leben von außen nach innen ab. Meine Transsexualität führte mich durch so viele traumatische Erfahrungen, jene Schatten, die mich als Jugendliche hinderten, mich vor der Welt zu offenbaren. Die Schatten befinden sich immer noch an den Wänden, nicht ausgelöscht, doch die Unwissenheit und Kraft der Angst sind verschwunden. Befreit von vielen Hindernissen kann bin ich auf den Weg der Transition.


Dennoch hat sich etwas in mir verändert, denn ich werde nicht mehr unwissend sein, weil ich die wahren Dinge im Lichte gesehen habe und diese hinter den Schatten wiedererkenne. Ein großer Teil der Angst wurde mir genommen. Heute fühle ich mich als Frau wohl. Ich bin auf den richtigen Weg! Ich hatte den Mut gehabt, meinen Weg zu finden und diesen zu gehen. Ja, ich kann heute sagen, ich bin mir selbst. Und ich bin nicht alleine: viele Menschen unterstützen mich. Jedoch kann ich auch sagen: ich bin etwas Besonderes. Ich gehöre zu den wenigen Menschen in Deutschland, die in einem Phänomen der Vielfalt hineingeboren wurde und ihren Weg gefunden hat. Ich bin glücklich.


Fazit: Auch wenn es oftmals dunkle Momente im Leben gibt, so gibt es immer für mich eine offene Tür, durch die ich gehen kann, denn dahinter kann sich das Glück verstecken. Nur Mut und Ausdauer brauche ich, durch diese Tür zu gehen.

 
 
 

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